In einem kürzlich veröffentlichten Artikel der ZEIT mit dem Titel “Fördern statt Kuscheln” wird eine neue Diskussion um die Ausrichtung der frühkindlichen Bildung und Betreuung in Deutschland angestoßen. In einem Leserbrief setzen sich Katrin Macha (ISTA), Milena Lauer (BeKi) und Gerda Wunschel-Gavlasz (INA.KINDER.GARTEN) kritisch mit den in diesem Artikel geäußerten Positionen auseinander und betonen die Wichtigkeit eines ganzheitlichen Bildungsansatzes, wie er im Situationsansatz verankert ist. Sie plädieren dafür, dass Bildung und Erziehung im Kita-Alltag über kurzfristige Ziele wie Schulfähigkeit hinausgehen und sich vielmehr an den Themen und Interessen der Kinder orientieren sollten.
Lesen Sie den vollständigen Leserbrief hier:
Leserbrief zum Zeit-Artikel „Fördern statt kuscheln“
Wir erleben wieder eine Richtungsdebatte in der frühen Erziehung, Bildung und Betreuung in Deutschland. Der Artikel „Fördern statt Kuscheln“ soll dazu wohl einen Beitrag leisten, doch fachlich geht darin einiges durcheinander. “Was sollte jedes Kind am Ende der Kita-Zeit können?” Seitdem die Kitas einen eigenständigen gesetzlichen Bildungsauftrag haben, ist dies glücklicherweise nicht mehr “Schulfähigkeit”. Das SGB VIII definiert den Auftrag von Kitas in §22 (3) wesentlich ganzheitlicher und weiter.
Kinder haben also das Recht auf Beteilung, auf Bildung und auf ihren heutigen Tag und dies ist Ausgangspunkt und Inhalt der pädagogischen Arbeit in den Kitas. Dieser Anspruch wird dann eingelöst, wenn Anregungen und Projekte in der Kita auf einer genauen Erkundung der Lebenswelten der Kinder und ihrer eigenen Themen basieren. Kitas sind nicht dafür da, die Fertigkeiten zu trainieren, die manche Grundschule gern bei den Kindern sehen möchte. Anleitung und Vorgaben sind für die Bildungsprozesse der Kinder nur bedingt hilfreich. Kinder lernen schneller und besser an ihren Themen, an dem, was sie umtreibt, was sie verstehen wollen.
Wir wenden uns gegen das kurzfristige Ziel und den Begriff der Schulfähigkeit und gegen den Begriff der Vorläuferkompetenzen, da sie problematische Botschaften über Bildung, Kinder, Kitas und Schulen transportieren. Im Sinne des “Sozialen Lernens” sehen wir, auch in der Tradition des Situationsansatzes, dass es bei der Bildung von Kindern im Kindergarten (und auch in der Schule) um viel mehr geht als Fertigkeiten oder Sachkompetenzen. Es geht um Persönlichkeitsentwicklung, Gemeinsinn, Mitbestimmung und Gestaltung einer demokratischen, inklusiven Gesellschaft. Hier brauchen Kinder zum Beispiel starke lernmethodische Kompetenzen, um sich zukünftigen Herausforderungen und Chancen neugierig, mutig und zuversichtlich zuzuwenden.
Die superdiverse Zusammensetzung der Kindergruppen in den Kitas heutzutage bietet einen Quell von spannenden, neuen Themen und gemeinsamen Gruppenprozessen. Einheitliche Lernwege, Formeln und Schablonen werden dieser Diversität nicht gerecht. Sie werden die Mehrzahl der Kinder nicht erreichen und sie nicht bei ihrem Lernen unterstützen. Pädagog*innen haben vielmehr die Aufgabe zu erkunden, was bei den Kindern los ist, was sie bewegt und wie sie in ihren Lernthemen begleitet werden können. Dann ist es passgenau und erfolgreich im Sinne starker, selbstbewusster und lernfreudiger Kinder.
Wir wenden uns gegen die verkürzte Darstellung des Situationsansatzes. Der Situationsansatz hat einen hohen pädagogischen Anspruch und ist ein guter, praxiserprobter Weg, um dem gesetzlichen Auftrag der umfassenden Förderung und Bildung von Kindern gerecht zu werden. Kinder sind dabei mitnichten sich selbst überlassen, sondern Pädagog*innen gestalten die Lernumgebung mit den Kindern so, dass sie an ihren Themen arbeiten können, indem sie entsprechende Materialien, Spielimpulse, Aktivitäten oder Verantwortlichkeiten erhalten. Dies geschieht ohne Zwang und entlang der Interessen oder Themen der Kinder – denn dadurch lernen Menschen am besten und am schnellsten, auch das haben schon verschiedene Studien gezeigt. Schon in den 1970er und 1980er Jahren hat einer der Begründer des Situationsansatzes, Jürgen Zimmer, in seiner Tätigkeit als Redakteur in Ihrer Zeitung häufig über den Situationsansatz geschrieben – und viele Beispiele benannt, wie Themen von Kindern bearbeitet werden und so auch im Sozialraum gelernt werden kann.
Für Dialoge zu unserer Position stehen wir zur Verfügung. Auch führen wir Sie gern in Kitas, in denen diese Pädagogik gelebt wird.
Milena Lauer,
Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung (Beki) an der Internationalen Akademie Berlin gGmbH
Katrin Macha,
Institut für den Situationsansatz (ISTA) an der Internationalen Akademie Berlin gGmbH
Gerda Wunschel-Gavlasz
INA.KINDER.GARTEN gGmbH