Christa Preissing ist im April 2022 mit noch nicht einmal 70 Jahren gestorben. Das möchte man nicht wahrhaben!

Ohne sie würde es Netzwerk Spiel/Kultur vielleicht gar nicht (mehr) geben – auf jeden Fall sähe unser Verein jetzt anders aus. Sie setzte sich ihr Leben lang für Qualität in Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen ein, wobei sie die Perspektive von Kindern einnahm: Ihr ging es um deren Bedürfnisse und Selbständigkeit. Sie engagierte sich für den sogenannten Situationsansatz, demzufolge Pädagogen Kinder bei ihren Tätigkeiten unterstützen sollen – statt ihnen Lernziele vorzugeben und Verhaltensweisen „beizubringen“. Die Individualität jedes einzelnen Kindes steht dabei im Vordergrund.

Geschätzt wurde Christa Preissing unter anderem dafür, dass sie ihre Forschungserkenntnisse nicht nur verbreitete, sondern konkret in Kinderbetreuungseinrichtungen umzusetzen versuchte. Sie kommunizierte mit Praktikern, Politikern, Eltern und Kindern – sie war immer unterwegs, immer am Dialog interessiert. Sie gründete und leitete mehrere Institute und Organisationen, hatte nicht nur ein enormes Fachwissen, sondern war auch ein Organisationstalent.

Immer unterwegs: Dazu passt ihre erste Begegnung mit einigen Gründern von Netzwerk Spiel/Kultur, zu denen auch ich gehörte. Kaum war die Mauer gefallen, guckte sie sich neugierig im Osten um (für Wessis durchaus untypisch!) und traf uns zufällig auf dem noch nicht richtig existierenden Abenteuerspielplatz in der Kollwitzstraße. Wie sie rund zwanzig Jahre später auf dem 1. Leitbildtag von Netzwerk erzählte, fand sie uns „frech, zänkisch und streitlustig, radikal, grenzenlos, verrückt, visionär, eigensinnig, merkwürdig“. Wären Kinder so, könnte man meinen, müsste man sie sofort „erziehen“. Wir fühlten uns aber verstanden und sogar geehrt. Ich habe den Verdacht, dass Christa, mit der wir uns sofort duzten, uns trotzdem sympathisch fand, weil sie selbst so war. Es lohnt sich, ihren Vortrag in unserer Leitbildbroschüre von 2009 nachzulesen.

Seit dem ersten Treffen haben sich unsere Wege oft gekreuzt oder verliefen sogar zeitweise parallel. Die gemeinsam organisierte große Berliner Aktionstagung „KINDERKULTUR“ (1991), die West- und Ostberliner Leute aus der Kinderund Jugendarbeit zusammenbrachte, war nur der Auftakt für unsere langjährige Kooperation.

Unser Spielwagen hatte schon 1989 im Prenzlauer Berg einen „Rat der Kinder“ ins Leben gerufen. Er inspirierte nach dem Mauerfall die Initiative „Kids beraten den Senator“ und etwas später diverse Kinderbüros in den Stadtbezirken. Christa beteiligte sich an diesem Prozess, ein Meilenstein war die Tagung „Wege zur Interessenvertretung von Kindern“
in der Senats-Fortbildungsstätte Am Rupenhorn (1994).

Wir besuchten sie im Büro ihres „Fortbildungsinstituts für die pädagogische Praxis“ (FIPP), wo sie uns West-Neulingen mit ihrer Mitstreiterin Barbara Tennstedt selbstlos half, den Antragsdschungel in der Berliner Landschaft zu durchschauen (obwohl wir theoretisch in Konkurrenz zu ihren Anträgen standen).

Als unsere Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. 1995 eine Verfassungsbeschwerde gegen die Altersgrenze beim Wahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht vorbereitete, war sie eine der prominenten Unterstützerinnen.

Ohne Christas langjährige wissenschaftliche und publizistische Arbeit zur „Elementarpädagogik“ wäre es sicher schwieriger für uns gewesen, unsere Ideale für Jugendprojekte und ab 2005 auch Kindergärten und Horte zu verwirklichen. Das von ihr wesentlich geprägte „Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege“ und die darin ausgedrückte Grundhaltung zum Verhältnis von Erwachsenen und Kindern half uns als gutes theoretisches Fundament, die Einrichtungen von Netzwerk Spiel/Kultur zu entwickeln.

Später, bei der Gründung unserer sehr unkonventionellen demokratischen Schule, kritisierte sie – gemeinsam mit Prof. Jörg Ramseger – unsere Schulkonzeption in freundschaftlicher,  offenherziger Weise. Ohne ihre Hinweise und Fragen hätten wir womöglich unsere Schule nie genehmigt bekommen. Bereits 2005 hatte sie sich für unsere Berliner International Democratic Education Conference (IDEC) eingesetzt. Ihr Vortrag „Autonomie, Solidarität und Kompetenzen bei jungen Kindern“ landete im Programmheft, leider konnte sie ihn dann nicht halten. „Zieh deine Jacke an – mir ist kalt!“ – unter diesem Motto stand unser Leitbildtag 2016, bei dem wir Christa das letzte Mal in großer Runde bei uns hatten und über Sinn und Unsinn pädagogischer Intervention diskutierten.

Es versteht sich, dass ich und alle Mitstreiter ihr dankbar sind. Allerdings glaube ich, dass sie auf derlei Danksagungen – mangels Frechheit – keinen Wert gelegt hätte.

Für Leute, die mehr über Christa Preissing wissen wollen: Ihr zu Ehren hat das Institut für den Situationsansatz zahlreiche Nachrufe vieler Freunde und Kollegen veröffentlicht: www.situationsansatz.de/nachrufe-auf-christa-preissing

Mike Weimann
Vorstand und Gründungsmitglied von
Netzwerk Spiel/Kultur Prenzlauer Berg e.V.